Wahrnehmungen von Ungleichheit in einer sozialistischen Diktatur: Daten aus der DDR

Projektbeschreibung
 

Ziele und zentrale Fragestellungen:

Das Projekt untersucht die Wahrnehmung von Ungleichheit in einer sozialistischen Diktatur, inwieweit Individuen ihre Forderungen an das Regime durch Vergleiche mit Dritten rechtfertigen, und wie diese Faktoren die staatliche Reaktion auf geäußerte Forderungen beeinflussen. Wir konzentrieren uns auf die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die uns eine einzigartige Möglichkeit bietet historische Daten einzubeziehen. Dabei stützen wir uns auf schriftlich archivierte Beschwerdebriefe, sogenannte „Eingaben“, von Bürgerinnen und Bürgern an die staatlichen Behörden. Dieser offizielle Kanal erlaubte den Behörden auch, das Ausmaß öffentlicher Unzufriedenheit einzuschätzen sowie die Klagen der Bürgerinnen und Bürger über ihren Alltag aufzunehmen.

Wir werden die originalen Eingaben und staatliche Antwortschreiben der Beamten aus den Archiven der vormaligen DDR-Bezirke sammeln und digitalisieren. Unser Hauptaugenmerk liegt darauf zu bestimmen, wie ausgeprägt die Rechtfertigung individueller Forderungen durch Vergleiche mit Dritten war, und wie diese die Reaktion des Regimes auf geäußerte Forderungen beeinflusste.

Hintergrund:

Zahlreiche autoritäre Regime der Gegenwart und Vergangenheit fußen auf einer sozialistischen Ideologie. Ungleichheit ist eine fundamentale politische Herausforderung für solche Regime, deren Legitimität ja auf dem Anspruch beruht, Gleichheit und Wohlbefinden für ihre Bürgerinnen und Bürger herstellen zu können.

Bisherige Forschungen zu subjektiven Statusvergleichen haben ergeben, dass es eher wahrgenommene als tatsächliche Ungleichheit ist, die politische Einstellungen erklären kann. Daraus folgt, dass die subjektive Einschätzung von Ungleichheit durch Individuen weitreichende Folgen haben kann: Eine sozialistische Diktatur, die ungleiche Behandlung und ungleichen Erfolg ihrer Bürgerinnen und Bürger erlaubt, scheitert an einer ihrer Grundvoraussetzungen. Das könnte zu verbreiteter Unzufriedenheit führen und letzten Endes eine Bedrohung für das Regime darstellen. Für das Überleben sozialistischer Autokratien ist daher entscheidend, dass sie in ihrer Bevölkerung die Wahrnehmung vorherrschender Gleichheit aufrechterhalten. Die Analyse von Eingaben erlaubt uns, wahrgenommene Ungleichheit zu messen – zumindest soweit die Bürgerinnen und Bürger sie freiwillig offengelegt haben – und ihre Bedeutung für die Reaktion staatlicher Einrichtungen auf geäußerte Beschwerden einzuschätzen.
 

Methoden:

In einer ersten Projektphase werden wir historische Daten aus den Archiven der vormaligen DDR-Bezirke sammeln und die Inhalte des Archivmaterials digitalisieren. Anschließend werden wir Informationen über das Ausmaß wahrgenommener Ungleichheit und Vergleiche mit Dritten kodieren, außerdem die wichtigsten Themen der Eingaben sowie die Reaktion der Behörden. In unserem Projekt werden wir systematisch analysieren, ob Staatsbedienstete eher geneigt sind, auf Forderungen in den Eingaben einzugehen, wenn die Fordernden (wahrgenommene) Ungleichheit als Begründung anführen. Weiterhin werden wir untersuchen, ob in den Eingaben, bei denen es um Ungleichbehandlung geht, auch systemische Drohungen ausgesprochen werden, wie etwa Wahlverzicht oder Auswanderung.

Disziplinen:

Politikwissenschaft

Startdatum:

1. Oktober, 2020