Bild: Christian Reil auf Pixabay.

Sozialpolitik für das digitale Zeitalter

Politikwissenschaftler des Exzellenzclusters “The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz untersuchen, was die Bürger*innen in 24 OECD-Ländern angesichts zunehmender Automatisierung und Digitalisierung des Arbeitsplatzes von ihren Regierungen erwarten.

Robotisierung, Automatisierung und Digitalisierung: Ein rasanter technologischer Wandel verändert die Arbeitsmärkte weltweit. Dieser umfassende Wandel wirkt sich massiv auf die Arbeitsplätze der Beschäftigten aus, verändert den Arbeitsalltag vieler – und bedroht für einige die Existenzgrundlage.

Was können Regierungen tun, um die Beschäftigten in dieser Übergangszeit zu unterstützen? Die Politikwissenschaftler Prof. Dr. Marius R. Busemeyer und Dr. Tobias Tober vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz haben die politischen Präferenzen von Befragten in 24 OECD-Ländern untersucht. Die Ergebnisse veröffentlichen sie nun in einem Policy Paper in Zusammenarbeit mit dem Berliner Think Tank „Das Progressive Zentrum“: URL

Auf der Grundlage vergleichender, neu erhobener Umfragedaten von über 25.000 Befragten zeichnet die Studie ein facettenreiches Bild. Es gibt große Bedenken, dass technologiebedingt Arbeitsplätze in Gefahr sind. Viele haben aber auch positive Erwartungen an den technologischen Wandel. Politische Unterstützung wird erwartet und kann eine große Bandbreite haben: Erleichterte Aus- und Weiterbildung kann Beschäftigte in die Lage zu versetzen, mit den neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes umzugehen. Sozialprogramme können diejenigen auffangen, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt hinter der Technologiekurve zurückfallen. Die Politik steht vor einer Gratwanderung, denn für diejenigen, deren Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, ist das Thema naturgemäß ein heikles.

Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse empfehlen die Autoren einen ausgewogenen politischen Ansatz, um eine weitere politische Polarisierung zu vermeiden.
 

Die wichtigsten Ergebnisse des Policy Papers im Überblick:

Beschäftigte verstehen die Vorzüge der Digitalisierung, fürchten aber um die Sicherheit des Arbeitsplatzes

Die Befragten erwarten, dass Automatisierung und Digitalisierung ihr Arbeitsleben positiv beeinflussen werden. Mehr als 50 Prozent in allen 24 untersuchten Ländern erwarten eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, eine Verringerung der körperlichen Anforderungen und Gefahren sowie einen Rückgang von ermüdenden und anstrengenden Routineaufgaben. In Deutschland sind die Erwartungen allerdings nicht ganz so positiv und liegen bei diesen Fragen mehr als zehn Prozentpunkte unter dem internationalen Durchschnitt.

Viele Menschen weltweit haben andererseits Angst davor, von Maschinen, Robotern oder Algorithmen ersetzt zu werden. Die Zahlen variieren stark von Land zu Land: Türkische (64,9 Prozent) und koreanische (65,5 Prozent) Arbeitnehmer*innen äußern am häufigsten die Befürchtung, dass die Wahrscheinlichkeit, ersetzt zu werden, "hoch" oder "sehr hoch" ist. In Österreich (21,5 Prozent) und Deutschland (27,5 Prozent) sind die Befragten bei dieser Frage deutlich zuversichtlicher.

„Wir empfehlen der Politik, weder die positiven noch die negativen Folgen von Automatisierung und Digitalisierung ausschließlich und für sich genommen zu betonen“, fasst Tobias Tober zusammen. „Die Arbeitnehmer in den meisten Ländern sind sich sehr wohl bewusst, dass es sowohl Chancen als auch Gefahren gibt, daher sollte die Politik eine ausgewogene Haltung einnehmen und ihre Sorgen ernst nehmen.“

Bessere Ausbildung und lebenslanges Lernen werden hoch geschätzt...

Zur Verbesserung der Chancen von Arbeitnehmer*innen auf dem Arbeitsmarkt, jetzt und in Zukunft, könnte sich eine progressive Politik auf Maßnahmen zur Förderung von Bildung, Ausbildung und lebenslangem Lernen konzentrieren. Mehr Investitionen in die Hochschulbildung sowie in Berufsbildungsmöglichkeiten für junge Menschen würden von durchschnittlich 74,2 Prozent der Befragten in den 24 OECD-Ländern unterstützt. Mit 78 Prozent ist die Unterstützung für verstärkte Investitionen in Umschulungsmöglichkeiten für Menschen im erwerbsfähigen Alter sogar noch größer.

Restriktive Maßnahmen sind weit weniger attraktiv. Eine Sondersteuer für Unternehmen, die auf Roboter oder andere Technologien setzen, findet zum Beispiel nur die Zustimmung von 46,6 Prozent der Befragten. Die Autoren empfehlen politischen Entscheidungsträger*innen daher, dem Ausbau von Bildungsangeboten, insbesondere im Bereich des lebenslangen Lernens, Priorität einzuräumen.

…aber Sozialprogramme werden vorgezogen

Auch wenn auf Bildung gerichtete Maßnahmen beliebt sind, herrschen bei denjenigen, die befürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, andere Prioritäten vor. Derart besorgte Arbeitnehmer*innen neigen dazu, Bildungsinvestitionen weniger zu unterstützen. Sie fordern stattdessen direktere Formen des Ausgleichs durch Sozialtransfers. Dieser Trend ist unabhängig von der persönlichen Bildung und dem Alter.

Besser Infrastruktur, Erwartungen in Deutschland

Vergleicht man die länderübergreifenden Durchschnittswerte mit den Zahlen für Deutschland, fällt ein Unterschied besonders ins Auge: 74,8 Prozent der deutschen Befragten unterstützen verstärkte Aufwendungen in die digitale Infrastruktur, rund 12 Prozent mehr als der Länderdurchschnitt (62,9 Prozent). Die Befragten aus Deutschland sehen in diesem Bereich offensichtlich erheblichen Investitionsbedarf.

Mit nur 55,3 Prozent sprechen sich dagegen weniger Befragte für eine Erhöhung sozialer Transferleistungen aus als in den meisten Ländern (internationaler Durchschnitt: 61,0 Prozent).

Was können Regierungen unternehmen, um den Wandel zu gestalten?

„Wir sind nach wie vor der Meinung, dass Bildungsinvestitionen Priorität haben sollten“, sagt Marius Busemeyer. „Gleichzeitig muss die Politik aber auch die betroffenen Arbeitnehmer direkt unterstützen – natürlich, um ihnen kurzfristig zu helfen, aber auch, um die politische Polarisierung rund um dieses Thema nicht weiter anzuheizen.“

Tobias Tober ergänzt: „Denkbar wären zum Beispiel Modelle, die eine großzügigere Arbeitslosenversicherung mit neuen Instrumenten zur Förderung des lebenslangen Lernens kombinieren. Wir denken dabei an Lernkonten oder sogar an einen gesetzlichen Anspruch auf lebenslanges Lernen. Nach unseren Erkenntnissen ist Vieles auch einfach eine Frage der Kommunikation. Es ist wichtig, dass die Politik die positiven Aspekte des technologischen Wandels betont, während sie sich zugleich mit seinen Gefahren auseinandersetzen muss.“

Fakten:

  • Neue Publikation: Marius R. Busemeyer, Tobias Tober (2021): Soziale Kompensation, Umschulung, kürzere Arbeitszeiten? Die sozialpolitischen Prioritäten der Bürger*innen für das Zeitalter der Automatisierung. Policy Papers 08: Ungleichheit und Arbeit. 02. September 2021. Herausgebende: Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz & Das Progressive Zentrum, Berlin. Download: URL.
  • „Das Progressive Zentrum“ ist ein unabhängiger und gemeinnütziger Think-Tank mit dem Ziel, die Vernetzung progressiver Akteurinnen und Akteure zu fördern und Politik für ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt mehrheitsfähig zu machen. Sitz in Berlin, Aktivitäten in vielen Ländern Europas (u. a. Frankreich, Polen, Großbritannien) sowie in den USA.
  • Marius R. Busemeyer ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Konstanz und Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wohlfahrtsstaatenforschung, Bildungs- und Sozialpolitik, Theorien des institutionellen Wandels sowie der Digitalisierung.
  • Tobias Tober is a postdoctoral researcher at the Cluster of Excellence “The Politics of Inequality” at the University of Konstanz. He studies the intersection of markets, institutions, and society.