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Corona-Regeln: Wer will sie aufheben und warum?

Studie der Universität Konstanz zeigt: Wer Lockerungen fordert, tut das oft aus Sorge um gesamtgesellschaftliche Folgen – oder aus Misstrauen gegenüber dem Staat

Wer durch die Corona-Maßnahmen Folgen für die gesamte Gesellschaft befürchtet und Grundrechte bedroht sieht, neigt dazu, sofortige Lockerungen zu fordern.. Dies zeigt eine Umfrage mit 4.800 Teilnehmenden, die vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz durchgeführt wurde. Auch Befragte aus dem Osten Deutschlands und solche, die ein geringes Vertrauen in staatliche Institutionen haben, sehen die Eindämmungsmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus besonders kritisch. Dagegen ist es für die Haltung zur Lockerung der Maßnahmen weniger wichtig, ob jemand wirtschaftliche oder familiäre Folgen der Pandemie für sich selbst oder die Gesellschaft befürchtet. Die Ergebnisse der Studie der Konstanzer Soziologin Prof. Dr. Claudia Diehl und ihres Fachkollegen Dr. Felix Wolter wurden am 23. Juli 2020 in Zusammenarbeit mit dem Think-Tank „Das Progressive Zentrum“ in einem Policy Paper veröffentlicht. 

Das Werben um Zustimmung für Corona-Regeln
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus haben zu weitreichenden Einschränkungen für die Bevölkerung geführt. Zentrale politische Akteure haben sich mit Solidaritätsappellen bemüht, um Zustimmung für die Corona-Regeln zu werben. Außerdem wurden zahlreiche finanzielle Ausgleichsmaßnahmen aufgelegt, etwa der sogenannte „Kinderbonus“. Ob aber durch solche Instrumente die Zustimmung zu einschränkenden Maßnahmen wächt, zieht die vorliegende Studie in Zweifel. Denn ob jemand sich in familiärer oder wirtschaftlicher Hinsicht durch die Einschränkungen bedroht fühlt, hat kaum Einfluss auf die Zustimmung zu Corona-Regeln.

Die allermeisten Befragten nehmen die Einschränkungen für ihr eigenes Leben auch nicht als schwerwiegend wahr. Nur zehn Prozent fühlen sich durch die Eindämmungsmaßnahmen im Bereich des Familienlebens bedroht, nur 15 Prozent wirtschaftlich (durch Arbeitsplatzverlust oder finanzielle Schwierigkeiten). Die eigenen Grundrechte sehen rund 23 Prozent in Gefahr. Deutlich stärker nehmen die Befragten die Bedrohung für die Gesellschaft als Ganzes wahr: 51 Prozent sehen Gefahren für die Familie, 56 Prozent für die Wirtschaft und 32 Prozent für die Grundrechte. 

Gründe für die Forderung nach Lockerungen
Wer spricht sich besonders für, wer gegen Lockerungen der Corona-Maßnahmen aus? Die Analyse von Claudia Diehl und Felix Wolter zeigt: Wer die gesellschaftlichen Folgen, etwa Grundrechteeinschränkungen, für bedrohlich hält, fordert eher sofortige Lockerungen. Eine vergleichsweise kleine Rolle für die Forderung nach Lockerungen spielt hingegen die Furcht vor persönlichen Einschränkungen wirtschaftlicher oder familiärer Natur. 

„Unser Befund ist wichtig für die Frage, wie durchsetzbar Politikziele sind, die der Bevölkerung ebenfalls große Anstrengungen abverlangen, um ein gesellschaftliches Ziel zu erreichen – zum Beispiel um den Klimawandel einzudämmen“, ordnet Claudia Diehl die Ergebnisse ein. Die Soziologin sieht in der Studie klare Hinweise darauf, dass die mangelnde Akzeptanz solcher Maßnahmen vor allem auf Furcht vor ihren gesellschaftlichen Folgen sowie auf mangelndes Vertrauen in staatliche Institutionen zurückzuführen ist.

„Die positive Botschaft unserer Studie ist, dass es die Politik ein Stück weit selbst in der Hand hat”, ergänzt Felix Wolter. Um größere Zustimmung für vergleichbare Politikziele zu erreichen, sei die erfolgversprechendste Strategie, Vertrauen in staatliches Handeln nachhaltig aufzubauen. In Bezug auf Einschränkungen zur Verfolgung gesamtgesellschaftlicher Ziele bedeute dies: Maßnahmen müssen transparent und inklusiv entschieden werden. Sie müssen der Bevölkerung so erklärt werden, dass diese nachvollziehen kann, auf welcher Ebene welche Entscheidung getroffen wird, und auf welcher Grundlage dies geschieht.

Die Studie basiert auf einem großangelegten Umfragenprogramm des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ zum Zusammenhang zwischen der Pandemie und sozialer Ungleichheit. Weitere Informationen über das Umfragenprogramm, zur Methodik und Datengrundlage unter: https://ungleichheit.uni.kn/forschung/covid-19-und-soziale-ungleichheit-umfrage-programm.

Faktenübersicht:

  • Großangelegtes Umfragen-Programm des Konstanzer Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ zum Zusammenhang zwischen Corona-Krise und Ungleichheit:
    http://ungleichheit.uni.kn/forschung/covid-19-und-soziale-ungleichheit-umfrage-programm/
  • Aktuelle Publikation: Claudia Diehl, Felix Wolter: Raus aus dem Lockdown? Warum es manchen zu schnell und anderen nicht schnell genug geht. Policy Papers: COVID-19 und soziale Ungleichheit – Thesen und Befunde 03. 23. Juli 2020.
    Download: www.progressives-zentrum.org/corona-regeln.
    Herausgeber der „Policy Paper“-Reihe: Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz in Kooperation mit „Das Progressive Zentrum“, Berlin
  • „Das Progressive Zentrum“ ist ein unabhängiger und gemeinnütziger Think-Tank mit dem Ziel, die Vernetzung progressiver Akteurinnen und Akteure zu befördern und Politik für ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt mehrheitsfähig zu machen. Sitz in Berlin, Aktivitäten in vielen Ländern Europas (u. a. Frankreich, Polen, Großbritannien) sowie in den USA.
  • Prof. Dr. Claudia Diehl ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Eingliederungsprozesse von Zuwanderern, der internationalen Migration, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Sie ist Mitglied in der Expertenkommission für wirtschaftliche Zukunftsfragen, die der französische Präsident Emanuel Macron im Juni 2020 einberief; ebenso im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
  • Dr. Felix Wolter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe für Mikrosoziologie von Claudia Diehl und Mitglied des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Quantitativen Methoden empirischer Sozialforschung, der sozialen Ungleichheit sowie der Sozialstruktur und Arbeitsmarktsoziologie.